26. Februar 2009

"Brief an mich selbst"

"Bief an mich selbst"

Ich halte ihn in meinen Händen, den Brief an mich selbst.
Das erste mal als ich ihn schrieb, war ich 12 Jahre alt.
Damals wunderte ich mich, denn warum zum Teufel sollte ich einen Brief an mich selbst schreiben? Ich kann doch denken und, wenn ich will, sogar laut mit mir sprechen, warum dann schreiben?
"Um dir einiges im Gedächtnis zu halten", sagte sie, doch ich verstand nicht was sie meinten.
Ich schrieb ihn, diesen Brief. Mit einem schwarzen Kugelschreiber auf ganz normales weißes Druckerpapier. Behalten sollte ich ihn, den Brief, später öffnen und dann lesen. Also packte ich ihn in meine ganz geheime Geheimschachtel zur Aufbewahrung. Seine Existenz vergaß ich sehr schnell.
Doch es sollte nicht der letzte gewesen sein, den ich schrieb.
Erst viele Jahre später entdeckte ich den Sinn und die Magie dieses Schriftstücks oder der Schriftstücke.
Ich schrieb noch mehrere Briefe an mich.
Einen mit 17, einen mit 19, direkt nach dem Abitur. Mit Mitte 20 dann den nächsten und mit 30 begann ich regelmäßig, einmal pro Jahr, meine Gedanken zu verfassen.
Diese Briefe handelten von allem was mich beschäftigte. Ich schrieb mir alles von der Seele, meine Ängste, meine Hoffnungen, meine Träume und meine Wünsche.
Manchmal schrieb ich dazu auch Briefe an andere Menschen.
Menschen, die ich gern hatte.
Menschen, die ich nicht mochte.
Und an einen besonderen Menschen, einen guten Freund, den ich liebte, es ihm aber nie gesagt hatte. Ich hatte Angst vor der Zurückweisung, vor der Gefahr, die Freundschaft zerstören zu können. Er war die einzige Person, die ich jemals geliebt habe.
Ich schickte sie nie ab, sonder behielt sie in meiner Geheimkiste.
Die Briefe waren mit Sicherheit keine literarischen Kunstwerke, doch jeder besonders und individuell geprägt durch seine Zeit, in der er entstand.
Keinen von ihnen öffnete ich, bis zum heutigen Tag. Bis zum Tag, an dem ich in meinem Bett lag und mein Leben bald vorbei sein sollte.
Ich öffnete sie, jeden einzelnen und las darin den ganzen Tag.
Bei manchen musste ich herzlich lachen, bei anderen kullerten mir die Tränen nur so über die Wangen. Ich las von meinen Hoffnungen, den erfüllten und unerfüllten Träumen, ich las aus meinem Leben.
Doch am schlimmsten war es bei den Briefen an die Menschen, die ich gern hatte und an meine einzige große Liebe.
Meine ganze Wertschätzung, Liebe und Zuneigung gaben diese Briefe preis, doch wussten diese Menschen das auch?
Mit letzter Kraft schrieb ich für jeden dieser Menschen einen Brief, doch ich war nicht sicher, ob das nicht zu spät war.
Ich schrieb und schrieb und schrieb und schrieb. Bis der letzte Buchstabe draußen, die letzte Träne versiegt und der letzte Punkt gesetzt war.
Erst jetzt hatte ich die Magie dieser Briefe wirklich verstanden.

Ich fragte mich, ob mein Leben wohl anders verlaufen wäre, wenn sie es gewusst hätten...

Danach schlief ich ein. Ein letztes Mal. Allein.

2. Februar 2009

Ich laufe durch die Straßen. Es muss wohl sehr kalt sein, denn mein Atem hinterlässt weiße, qualmartige Spuren in der Luft. Ich merke von all dem nichts, ich bin wie betäubt.
Es regnet. Das Wasser läuft mir mit dicken, großen und schweren Tropfen in den Nacken, doch ich fühle es nicht.
Auf meinen Weg achte ich nicht. Ich laufe dahin, wo mich meine Füße tragen, es sieht doch sowieso alles gleich aus. Die gleichen grauen Häuser, die gleichen grauen Straßen, mit den diesig wirkenden, schwach leuchtenden orangenen Straßenlaternen. Ab und zu mal ein beleuchtetes Fenster, sonst alles dunkel, wie immer grau.
Es ist kein Mensch auf der Straße, dass finde ich gut. Ich will allein sein, ich muss allein sein!
Zu viele Fragen haben sich mir mal wieder eröffnet, die in meinem Kopf immer präsent sind.
"Wer bin ich? Wo komme ich her, wo will ich hin? Was tue ich eigentlich?"
und die ganz entscheidende Frage:
"Bin ich glücklich?"
Diese Fragen quälen mich schon lange. Immer mal wieder, doch eigentlich finde ich das gut.
Nur so kann ich besser werden, erreichen, was ich möchte und was mich glücklich macht.
Doch diesmal ist es anders.
Noch nie stand ich so nahe vor dem Nichts. Noch nie hat mir das Leben so übel mitgespielt, noch nie habe ich so an mir gezweifelt und die Notwendigkeit meiner Existenz in Frage gestellt.
Meine Füße tragen mich weiter.
Auf einmal sehe ich, wo ich bin. Ich stehe vor der höchsten Brücke in unsere Gegend.
Wie durche eine andere Hand gelenkt, klettere ich die Brüstung hoch und stehe nun am höchsten Punkt.
Ich schaue runter und sehe das Wasser. Es ist nicht ruhig, so wie an sonnigen Frühlingstagen, sondern eher rau. Es wirkt wie eine riesige, eiskalte und graue Masse, die sich unter mir bewegt.
Den Regen kann man deutlich erkennen. Es sieht so aus, als würden die Regentropfen auf dem Wasser tanzen. Jeder einzelne verursacht nur eine kleine Bewegung, nur einen kleinen Schritt, nur ein trauriger Versuch, den Fluss in Wallungen zu bringen.
Doch zusammen, zusammen sind sie stark. Zusammen bewegen sie etwas und stellen einen wunderschönen Tanz zusammen.
Ich stehe auf der Brücke und schaue mir das Spektakel an. Ich beobachte weiterhin die Tropfen, wie sie aufs Wasser fallen und Eins werden mit der Masse.
Ein Tropfen kann nur mit Hilfe der anderen etwas bewegen, stark sein und etwas erreichen. Jeder ist anders und doch alle gleich.
Jeder ist für sich was Besonderes und doch ein Teil einer Gruppe, in der er wichtig ist.
Ich stehe auf der Brücke, der Regen läuft mir in den Nacken, ich fröstel.
Auf einmal merke ich die Kälte, die meinen Körper zittern lässt, meine Finger zum kribbeln bringt, die mich jedes meiner Körperteile spüren lässt.
Ich fühle mich lebendig.
Die Tropfen laufen mein Gesicht hinunter, ich spüre sie eindeutig, jeden einzelnen.
Ich fühle mich lebendig.
Es wird windig. Der Wind peitscht mir hart durchs Gesicht, ich verspüren einen leichten aber bestimmenden Schmerz. Er zerzaust mir die Haare und lässt meine Kleidung flattern.
Ich fühle mich lebendig.
Gegenüber der Brücke ist eine Mauer, auf die ein Grafitti gesprayt wurde. Es wundert mich, denn ich laufe jeden Tag über diese Brücke und habe es noch nie zuvor gesehen. Um es erkennen zu können, muss ich die Augen zusammen kneifen, denn die Beleuchtung ist auch hier eher miserabel. Schließlich kann ich es erkennen und lese es laut für mich vor.
"DAS LEBEN IST SCHÖN, auch wenn es nicht immer so scheint!"
"DAS LEBEN IST BUNT, auch wenn es manchmal regnet!",
steht da in großen, bunten und geschwungenen Lettern. Daneben hat jemand eine Sonne gemalt und ganz viele Punkte. Sie sind rot und grün, blau und gelb. violett und pink, beige und braun und noch ganz viele andere Farben.
Es sieht so aus, als würden die Punkte leuchten.
Ich lese die Schrift nochmal.
"DAS LEBEN IST SCHÖN[...], DAS LEBEN IST BUNT[...]"
Diese Worte schwirren mir immer wieder durch den Kopf, sie brennen sich in meinem Gedächtnis fest.
Wie in Trance steige ich von dem Pfeiler. Ehe ich mich versehe, stehe ich wieder hinter dem Geländer. Das Geschriebene leuchtet mir weiterhin entgegen.
"Heute nicht!", denke ich und fühle mich dabei richtig lebendig.
Ich wende mich zum gehen, ein letztes mal will ich mich umsehen. Ich blicke zurück, doch die Schrift ist verschwunden.
Ein Lächeln huscht mir über das Gesicht.

"HEUTE NICHT!"